Der zwölfte Mann

31. Juli 2022

Mit Sport gegen Mobbing

Andre Kaffenberger

über 165 Kilo, Mobbing, einen Todesfall und seine Mission

Andre Kaffenbergers Kindheit ist wie die eines normalen Kindes – er wächst mit zwei älteren Brüdern in einem wohlbehüteten Elternhaus auf, spielt viel draußen, bewegt sich täglich. Doch mit fünf Jahren bekommt er eine Diagnose, die die nächsten 15 Jahre seines Lebens drastisch verändern wird: schweres Asthma – es folgt eine Tabletteneinstellung, unter anderem mit Kortison. Und diese hat eine enorme Gewichtszunahme zur Folge. „Höhepunkt waren 165,7 Kilogramm als ich 14 Jahre alt war“, erzählt der heute 24-Jährige. Es folgen Mobbing, Ausgrenzung und ein schwerer Schicksalsschlag bis er schließlich wieder auf die Füße kommt und jetzt mit seiner Geschichte anderen helfen will.

Das Leben mit 165 Kilogramm

„Ich war nie einer, der drinnen saß und sich vollgefressen hat. Trotz Sport nahm ich als und als zu“, erklärt der Reichelsheimer (Odenwald). Doch so ganz dem Kortison in die Schuhe schieben, kann er seine extreme Gewichtszunahme doch nicht: „Das hat eine enorme Frustration in mir ausgelöst – und so habe ich nachts Fressattacken bekommen, die natürlich auch ihren Teil dazu beigetragen haben“, ist er sich bewusst.

Manche Situationen haben sich ihm wohl für die Ewigkeit ins Gedächtnis gebrannt: „Einmal stand ich beim Fußball im Tor und wurde von den Gegnern während des Spiels verbal fertiggemacht. ,Fettsack, kauf dir doch einen BH’ haben sie beispielsweise gerufen.“ Doch nicht nur das ist ihm im Gedächtnis geblieben, sondern vor allem, dass sich niemand für ihn eingesetzt hat. „Das Mobbing begann am Sportplatz und hat sich schließlich auf die Schule und meinen Alltag ausgewirkt. Lehrer, Trainer, alle um mich herum haben das mitbekommen – doch keiner von denen ist eingeschritten. Das spiegelt leider unsere heutige Gesellschaft wieder.“

Wie hat sich dein Alltag damals gestaltet?

Niemand sollte 165 Kilo mit sich herumschleppen – denn es beeinträchtigt einfach alles: Treppen laufen, etwas tragen, generell irgendwohin laufen. Natürlich hat es auch die Asthmaanfälle verschlimmert. Rückblickend hat mich die Zeit zu dem gemacht, der ich heute bin, aber das nochmal erleben möchte ich niemals – es macht dich innerlich kaputt.

Andres Weg hinaus

Dass es so nicht weitergehen kann, ist Andre mehr als bewusst, beeinflusst das Gewicht sein ganzes Leben – das noch vor ihm liegt. „In jeder Lebenssituation wirst du damit konfrontiert“, weiß er. Als er aufgrund eines Muskelfaserrisses ins Krankenhaus eingeliefert wird, checkt der zuständige Arzt routinemäßig einige Werte und stellt einen alarmierenden fest: Andres Nierenwert ist „ganz ganz schlecht“. Das führt der Mediziner unter anderem auf das tägliche Kortison zurück – und setzt es ab. „Das war ein sehr prägendes Ereignis für mich. Kurz darauf bin ich eines Morgens aufgewacht, zu meiner Mutter gegangen und habe gesagt ,Es muss sich was ändern. Ich muss abnehmen.‘“, erinnert sich der gelernte Großhandelskaufmann. Um sein Asthma trotzdem weiter zu behandeln, beschäftigt er sich mit der alternativen Medizin und besucht eine Heilpraktikerin. „Das hat mir gezeigt, dass der ,medizinische’ Weg nicht immer der richtige ist.“ Denn: Die Heilpraktikerin kann ihm helfen – und er bekommt die Krankheit in den Griff.

Um auch seinem Gewicht den Kampf anzusagen, geht der damals 14-Jährige in eine Kur in Bruchweiler. Sechs Wochen täglicher Sport, Ernährungskurse und die Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Körper liegen vor ihm. „Das Besondere war, dass dort Jugendliche aufeinander trafen, die das gleiche Leid teilten. Wir sind unglaublich schnell zusammengewachsen, haben an einem Strang gezogen und uns gegenseitig aufgebaut“, blickt der Reichelsheimer zurück. Innerhalb von sieben Tagen purzeln sieben Kilos, doch „das war zu schnell“, weiß der heute 24-Jährige.

In der Kur hat man 24/7 Unterstützung um sich, ein Rückfall wird sofort aufgefangen. Kommt man aus dieser Blase heraus und nachhause, ist man auf sich alleine gestellt. Wie hast du die ersten Tage und Wochen zuhause erlebt?

Ich habe die Kur tatsächlich schon nach vier Wochen verlassen. Der Arzt sagte damals zu mir, er hat keine Bedenken, dass ich das schaffe. Und wenn nicht, kann ich jederzeit zurückkommen. Das hat einen Schalter bei mir umgelegt – in diesem Moment habe ich mir geschworen, alles zu tun, um genau das nicht zu müssen. Wie sagt man so schön: Aller Anfang ist schwer, doch ich habe auch zuhause in meine Routinen gefunden.

Und die machten sich bezahlt: Die Kilos purzeln und purzeln – anfangs langsamer, dann konstant, sodass er seinem Normalgewicht immer näher kommt. „Die Klinik verlassen habe ich mit 17,5 Kilo weniger. Mit 16 Jahren waren es schließlich 105 Kilo, mit 17 Jahren 81 – Normalgewicht.

Der Schicksalsschlag

Doch das soll es mit Talfahrten in Andres Leben noch nicht gewesen sein. Es ist der 9. Oktober 2016 als Andre die wohl schlimmste Nachricht seines Lebens erhält: Sein Bruder Marcel (damals 24) ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Dein Bruder Marcel war immer dein größter Unterstützer. Du warst 18 als er starb. Was hat das mit dir gemacht?

Ich habe Marcel so viel zu verdanken. Er hat jeden Tag mitbekommen, wie es mir erging und stand fest hinter mir – vor allem, als ich entschied, dass es so nicht weitergehen kann. Zur Zeit seines Todes war ich endlich bei meinem Normalgewicht angelangt – doch der Unfall hat mich vollkommen aus dem Leben gerissen.

Doch diesmal bewegt sich das Gewicht nach unten – Woche für Woche zeigt die Waage weniger Kilos an. „Ich habe nicht mehr gegessen, mir den Finger in den Hals gesteckt, mich nicht bewegt – ich war so in mich gekehrt, dass auch keiner mehr zu mir durchdringen konnte“, erinnert er sich. „Mein Beschützer wurde mir genommen.“ Der Tiefpunkt sind 69 Kilo bei einer Größe von 1,87 Meter. Doch der heute 24-Jährige beweist auch dieses Mal einen unfassbaren Lebenswillen und kämpft sich zurück – auch seinem toten Bruder zu Liebe.

„Ich will mit meiner Geschichte helfen“

Vor drei Jahren, mit 21 Jahren, ist die Berg- und Talfahrt schließlich beendet – Andre hat sein Normalgewicht erreicht. Eines hat sich damals jedoch niemals verändert: die Liebe zum Sport. Durch seinen Bruder Marco, der aktuell bei BSV Rehden in der Regionalliga Nord spielt, hat er immer einen besonderen Bezug zu Fußball. „Ich kam gar nicht drumherum“, schmunzelt er.

Und so hat er es sich mittlerweile zur Aufgabe gemacht, durch den Sport anderen Menschen – vor allem Kindern und Jugendlichen, die mit Mobbing konfrontiert werden – zu helfen. „Bei mir hat damals jeder Erwachsene weggeschaut, anstatt dagegen anzugehen. Ich möchte den Kids meine Geschichte erzählen, damit sie wissen, sie sind nicht alleine. Gleichzeitig möchte ich das fehlende Verantwortungsgefühl für unsere Mitmenschen den Menschen ins Gedächtnis rufen.“

Und dazu hat er einiges auf die Beine gestellt: Gerade ist er dabei „Kaffenbergers Coaching Akademie“ zu gründen, in der er Fußball- und Sporttraining für alle anbietet. Zudem ist er als Mobbing- und Mentalcoach aktiv, auch zum Abnehmen verteilt er Tipps.

„Schaut nicht weg!“

Sogar Vorträge und Gesprächsrunden in Schulen stehen auf seinem Plan. „Mobbing ist kein Thema, das totgeschwiegen werden darf – vor allem in Schulen!“ Denn: „Es ist eine Frechheit, Menschen, die nicht der angeblichen Norm entsprechen, anders und vor allem negativ zu behandeln“, macht der 24-Jährige deutlich. „Wir sind vielleicht schon im 21. Jahrhundert mit Digitalisierung und Co. Aber genau das hat auch das Mobbing verstärkt. Leute, schaut nicht weg, sondern schreitet ein, tut was dagegen und rettet damit vielleicht ein Menschenleben.“

Einschreiten – das ist, was Andre möchte – ein Zeichen setzen. „Sport verbindet uns Menschen und wir tun dabei gleichzeitig etwas gutes für unseren Körper. Das will ich nutzen.“

Wenn du zurückblickst – welchen Stellenwert hatte Sport damals für dich? Und welchen hat er heute?

Seit meinem dritten Lebensjahr habe ich Fußball gespielt und viel mit meinen Brüdern herumgetobt – Sport war also immer präsent. Den Stellenwert von Sport generell war schon immer hoch, doch mittlerweile habe ich eine andere Beziehung dazu. Damals wurde ich selbst beim Sportmachen gemobbt. Doch ohne Sport hätte ich den Tod meines Bruders so niemals verarbeiten können – es hat mir den Schmerz genommen.

Sport verbindet, Sport lenkt vom Alltag ab, Sport bringt dich voran – das hat Andre Kaffenberger auf seinem steinigen Lebensweg gelernt – und empfindet es als mehr als notwendig, ein Zeichen gegen Mobbing zu setzen – und Betroffene unterstützen. Und dafür schreit er seine Message in die Welt hinaus. „Ich werde nicht schweigen, sondern das verbreiten – denn ich weiß wie eklig das ist. Ich war kurz davor mir mein Leben zu nehmen.“ Und er ist bereits voll dabei. So erzählte er bei FFH und im Rheinmain TV von seiner Mission – und ist noch lange nicht am Ende. „Es sind gerade so viele neue Projekte in Planung – das wird toll werden.“

Was hat das mental mit dir gemacht?

Das alles geht natürlich nicht spurlos an einem vorbei. Im Laufe der Jahre habe ich mich sehr viel mit Persönlichkeitsentwicklung auseinandergesetzt. Und es ist spannend zu sehen, welche Veränderung ein Mensch machen kann. Im Gegensatz zu früher trete ich viel selbstbewusster auf, bin lebensfreudiger und fühle mich einfach stärker. Ich trete Menschen ganz anders gegenüber. Jetzt gilt es, das weiterzugeben.

One Comment on “Mit Sport gegen Mobbing

Carina Keinz
17. November 2022 um 22:06

Toller Mensch ❤️❤️❤️weiter so ❤️❤️❤️

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