Der zwölfte Mann

9. Oktober 2022

Im Blindflug

Die Goalballer der Deutschen Nationalmannschaft bei den Paralympics 2016 in Rio. Foto: Pressefoto Baumann

Als ich mir die große schwarze Brille schließlich vollends über die Augen ziehe, umhüllt mich eine völlige Dunkelheit. Für einen Moment herrscht Stille, dann prasselt die Geräuschkulisse nur so auf mich ein. Vorsichitig mache ich einen kleinen Schritt nach vorne und merke, wie unsicher ich bin. Von irgendwoher höre ich ein leises Klingeln – der Ball. Doch aus welcher Richtung das Klingeln genau kommt, vermag ich nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen. Langsam gehe ich in die Hocke und taste mich auf dem Boden vor, bis ich mit den Fingern eine der Linien ertaste.
Hören und Fühlen sind die beiden essentiellen Orientierungshilfen beim Goalball. Daher müssen Zuschauer und Trainer während des Spiels leise sein. „Es ist schonmal passiert, dass ein Tor aberkannt wurde, weil die Zuschauer zu früh gejubelt haben“, erzählt Stefan Weil, Trainer der Deutschen Nationalmannschaft.

Die Geschichte des Goalballs

Erstmals gespielt wurde Goalball im Jahre 1946 – kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Der Österreicher Hans Lorenzen und der Deutsche Sepp Reindle entwickelten den Sport für Kriegsinvalide. Somit wuchs die Begeisterung an der Sportart, bis sie schließlich 1976 in das paralympische Programm aufgenommen und bei den Paralympischen Spielen noch im selben Jahr in Toronto das erste Mal praktiziert wurde. Allerdings galt dies nur für die Herren-Mannschaften, Goalball-Frauen durften ab 1984 teilnehmen. Die erste Herren-WM fand schließlich 1978 in Österreich statt. Bei der zweiten Weltmeisterschaft 1982 nahmen auch Frauen-Teams teil.

Für die Chancengleichheit tragen alle Spieler eine blickdichte Brille. Die Regeln besagen, dass mindestens ein Spieler auf dem Feld eine Sehleistung von unter 10 Prozent haben muss, somit können auch Nicht-Sehbeeinträchtigte beim Goalball mitwirken.

Amtierender Paralympicssieger sind die Brasilianer, die bereits 2014 die WM gewannen. 2015 holte sich die Türkei den EM-Titel. Europameister 2019 wurde Deutschland. Bei den Damen holte Japan Gold in London, die USA wurden 2014 Weltmeister und die Türkei gewann 2015 die Europameisterschaft.

Facts

1. Europaweit sind die Goalballspielenden Nationen in A-, B- und C-Pool eingeteilt.
2. Alle zwei Jahre finden Europameisterschaften statt, bei denen die drei besten Mannschaften in den jeweils höheren Pool auf- und die letzten drei Mannschaften in den unteren Pool absteigen.
3. Weltmeisterschaften finden alle vier Jahre statt.
4. Goalball ist seit 1976 auch bei den Paralympics vertreten.

„Be quiet and play“ schallt es durch die große Turnhalle im Sportforum Berlin an diesem Wochenende. Dort fand der Nations Cup 2022 als Vorbereitungsturnier für die bevorstehnde Goalball-WM in Portugal statt. Neben der Deutschen Nationalmannschaft (amtierender Europameister) gingen auch die Nationalmannschaften aus Brasilien, Litauen, den USA, Israel und vielen weiteren Ländern an den Start. Im Halbfinale unterlagen die Deutschen nach einem guten Turnierauftritt schließlich mit 4:8 gegen Litauen.

Die Deutsche Nationalmannschaft

Die deutschen Goalballer im Einsatz beim Nations Cup (7. – 9. Oktober) in Berlin. Foto: Der Zwölfte

Seit gut zehn Jahren befinden sich die deutschen Goalballer auf einem steilen Weg nach oben. 2011 übernahm Trainer Stefan Weil gemeinsam mit seinem damaligen Kollegen Johannes Günther das Zepter der Mannschaft. „Zu der Zeit waren wir im B-Pool. Es lief nicht, wir wollten unbedingt da raus und wieder aufsteigen.“ Gesagt, getan. Mit hartem Training, Ehrgeiz und auch einer Portion Glück schafft da deutsche Team den direkten Abufstieg und bewies sich bei internationalen Turnieren – auch die Paralympics durften dabei nicht fehlen. Gerade finden sie sich im Umbruch. Johannes Günther hat das Trainerzepter vollends an Stefan Weil übergeben, zudem verließen drei Spieler das Team. Dafür sind zwei junge Spieler dabei, die nun Schritt für Schritt an Das Team herangeführt werden.

Erfolge

2016 – Teilnahme Paralympics in Rio
2017 – Vize-Europameister
2018 – Vize Weltmeister
2019 – Europameister (Heim-EM)
2021 – Teilnahme Paralympics in Tokio

„Eine gute Mannschaft ist geschwätzig“

Auch beim Training wird eine Brille getragen, um ein Spiel-Gefühl zu kreieren. „Beim Goalball ist entscheidend, dass die Spieler wissen, wie sie sich auf dem Spielfeld bewegen müssen“, erklärt Coach Weil. Und so steht nicht nur die Ballwurf-Technik auf dem Programm: „Wir studieren beispielsweise Laufwege ein. Alle Spieler müssen sich auf ihr Gehör verlassen. Das kann genutzt werden, um Täuschungen vorzunehmen, beispielsweise leise die Seiten zu tauschen und über die verbale Kommunikation die falsche Seite zu kommunizieren“, erklärt der Trainer. „Eine gute Mannschaft ist auf dem Feld sehr geschwätzig“, betont Stefan. Auch die Zielwurftechnik spielt eine wichtige Rolle, denn auch wie beim Handball gibt es Strafwürfe – zum Beispiel den Longball oder Highball. Daraufhin findet eine 1:1-Situation statt – ähnlich wie beim Elfmeter (Fußball) oder 7-Meter-Wurf (Handball). Basistraining wie Fußarbeit ohne Ball und Koordinationstraining sowie Kraftsport setzt der Nationaltrainer voraus. „Dazu spielen die Jungs alle in Vereinen. In der Nationalmannschaft wollen wir tiefergehend trainieren.“

Nationaltrainer Stefan Weil
/ Foto: RhyolCHIKAWA/IBSA

Goalball in Deutschland

Goalball ist auch heute noch wenigen Menschen ein klarer Begriff und gilt im Fußball-dominierten Deutschland klar als Randsportart. Dennoch hat Stefan Weil in den letzten Jahren eine Entwicklung in Deutschland beobachtet: „Es ist gerade alles im Wachsen und ich bin sicher, dass es noch weiter wachsen wird.“ So gibt es mittlerweile sogar zwei Ligen, eine dritte wird gerade etabliert. Außerdem Pokalspiele und eine Champions League. Allerdings fehlt es immer wieder an Nachwuchs. „Der Pool an Nachwuchsspielern ist hier zu Lande leider sehr begrenzt“, weiß Stefan. „Wohin es schließlich geht, ist vom Engagement einzelner Menschen abhängig. Ich bin Realist, wir werden niemals regelmäßig samstags um 18 Uhr in der Sportschau laufen. Aber unsere Paralympics-Teilnahmen beispielsweise haben dazu beigetragen, eine größere Aufmerksamkeit zu erregen. Das ein oder andere Spiel wurde sogar im ZDF übertragen oder zusammengefasst. Vor wenigen Jahren war daran noch nicht mal zu denken.“ Die Wahrnehmung von Goalball ist somit allgemein größer geworden – und so wird Stefan Weil mit dem Adler auf der Brust am Flughafen auch mal erkannt. „Viele sagen ,Ah, das ist das mit dem Klingelball‘. Es wird also mittlerweile ein Bezug hergestellt, und das ist toll.“

Ein entscheidender Aspekt ist allerdings auch die Finanzierung. Alle Spieler trainieren auf dem höchsten Leistungslevel, müssen nebenbei allerdings auch noch voll arbeiten – Gehälter können kaum gezahlt werden. „Das fängt schon bei den Reisen zu Auswärtsspielen an, die Fahrt, die Hotelübernachtung“, weiß Stefan. Und so gründete die Deutsche Nationalmannschaft einen Förderverein, der die Teams in genau diesen Belangen unterstützt.

„Ich sehe mich als Trainer, nicht als Behindertensport-Trainer“

Nun ist Stefan Weil bereits seit 11 Jahren dabei, ans Aufhören denkt der Erfolgstrainer aber noch lange nicht. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich Sport mal zu meinem Beruf mache. Aber ich liebe es, mit den Jungs die Welt zu bereisen. Wir haben immer riesen Spaß zusammen, verlieren das Sportliche aber nie aus den Augen.“ Ursprünglich hatte er Lehramt studiert, kurz vor Ende des Studiums aber abgebrochen. „Das habe ich nie bereut. Ich liebe, was ich tue.“ Die Sehbeeinträchtigung seiner Spieler spielt für den gebürtigen Marburger dabei kaum eine Rolle. „Unser Fokus liegt auf dem Sport, nicht auf der Beeinträchtigung. Also trainieren wir auch genau so. Ich sehe mich nicht als Behindertensport-Trainer.“

Im Winter steht nun die Weltmeisterschaft in Portugal auf dem Programm – und die hat eine ganz große Bedeutung: Es geht um die Qualifizierung für die Paralympics 2024 in Paris. Sieben Plätze sind noch zu vergeben, Frankreich als Gastgeber ist als Nummer acht bereits gesetzt. „Da wollen wir natürlich dabei sein, aber es gibt so viele gute Mannschaften, wir werden sehen.“

Ein Vergleich

Handball Goalball
Dauer2 x 30 min 2 x 12 min; bei 10 Toren Vorsprung
wird abgebrochen
Anzahl der Feldpieler73
Feldgröße40 x 20 m18 x 9 m
Torgröße3 m breit, 2 m hoch9 m breit, 1,3 m hoch
Angriffszeit45 Sekunden10 Sekunden
Strafwurf7-Meter-Wurf1 gegen 1
Ball425-475 g1250 g schwerer Klingelball

Lest auch hier mal rein: Ein osthessisches Poweräffchen – Carsten Klee erobert den Ninjasport!

4 Comments on “Im Blindflug

Verena
10. Oktober 2022 um 10:23

Danke für diesen lehrreichen Einblick in eine sonst eher unbekannte und medial wenig repräsentierte Sportart

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Celina Lorei
10. Oktober 2022 um 11:17

vielen lieben Dank:) nächste Woche gibt es dann Teil II

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[…] Rostock fand in diesem Jahr die Europameisterschaft der Goalballer statt. Als Gastgeber durfte die Deutsche Nationalmannschaft um Cheftrainer Stefan Weil natürlich nicht fehlen – und genau diese stand nun im EM-Finale den Spielern aus der Ukraine […]

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Zug um Zug | Der zwölfte Mann
15. Januar 2023 um 13:37

[…] Beschäftigt er sich mal nicht mit Schach oder seinem Studium, spielt er seit 2013 Goalball und gehört sogar der Deutschen Nationalmannschaft der Goalballer an, die im vergangenen Dezember bei der WM in Porto antraten. (Was Goalball überhaupt ist, erfahrt ihr hier.) […]

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